Juni 2023: Statement zur Nakba-Kundgebung am 20. Mai

Angesichts der vielen Statements und Social-Media-Diskussionen rund um die Kundgebung der „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ am Oranienplatz, wollen wir natürlich nicht zurückstehen, sondern auch noch einen etwas längeren Kommentar beitragen
(Foto: JFDA)
Vorletzten Samstag hatte die „Jüdische Stimme“ zu einer Protestkundgebung gegen die von der Berliner Polizei ausgesprochenen Verbote der propalästinensischen Demonstrationen rund um den sogenannten Nakba-Tag aufgerufen, zu der sich ca. 300 Antizionist:innen am Oranienplatz in Kreuzberg versammelten. Gegenprotest gab es keinen, u.a. hat aber das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus die Kundgebung beobachtet und einen Bericht veröffentlicht: https://www.jfda.de/post/dritte-intifada-nakba-protest
Im Nachgang der nach bereits einer Stunde aufgelösten Kundgebung, (die Polizei hatte einen Teil der Versammlung mit dem Argument, es handele sich um eine Ersatzveranstaltung für die verbotene Demonstration der #nakba75-Kampagne am Hermannplatz aufgelöst, woraufhin die Veranstalter:innen die gesamte Kundgebung beendet haben), zirkulierten in den Sozialen Medien gleich mehrere Stellungnahmen u.a. von der Jüdischen Stimme, der KOP (Kampagne für Opfer rassistischer Gewalt) oder dem Jewish Bund. Alle beschwören darin das immer gleiche Narrativ der friedvollen und für historische Gerechtigkeit kämpfenden unterdrückten Palästinenser:innen und ihrer antizionistischen Unterstützer:innen, deren „legitimer Versuch“ der „Nakba“ zu gedenken, aus rassistischen und imperialistischen Motiven des deutschen Staates verboten werde. 
Als Antifaschist:innen haben wir kein Interesse daran, staatliche Repression zu verteidigen, noch müssen wir bestreiten, dass die Demonstrationsverbote zum „Nakba“-Gedenktag und anderer propalästinensischer Veranstaltungen eine rassistische Dimension haben, die wir selbstverständlich als solche auch verurteilen. Gleichzeitig gibt es für uns keinen Grund sich mit einer vom antisemitischen Hass angetriebenen Bewegung zu solidarisieren. Vielmehr gilt ihnen als Feinden der Aufklärung und der Emanzipation – gleich wie anderen reaktionären Ideologien – unsere entschiedene Kritik. 
Es handelt sich nämlich nicht, wie ihre antizionistischen Unterstützer:innen meinen und kolportieren, bloß um den „legitimen Versuch“ palästinensischen Gedenkens, der in der BRD Widerstand hervorruft, weil er eine „Bedrohung für die deutsche Erzählung vom linearen Fortschritt nach dem Holocaust“ darstelle. Das ist eine irrige Instrumentalisierung von Stichworten einer antifaschistischen Kritik an der sogenannten „Erinnerungskultur“, derer sich die pro-palästinensische Bewegung als einer Strategie – neben Kontervorwürfen (Rassismus) oder Jüdinnen/Juden, die sich vor ihren Karren spannen lassen – bedient, um vom eigenen Antisemitismus abzulenken.  
Der aber, und auch der autoritäre Charakter dieser Bewegung, der rote Gruppierungen wie Young Struggle, Kommunistische Organisation und Revolution mit propalästinensischen Aktivist:innen (BDS, Samidoun, Palästina spricht) verbindet, zeigte sich auf der Kundgebung am Oranienplatz ziemlich deutlich. Während man sich einerseits von der einem wohlgesinnten Bürgi-Presse breit und lang interviewen ließ, attackierte man die, die kritisch über einen berichten (p.s. für die Freund:innen des identitären Arguments: zumeist jüdische und/oder israelsolidarische Vereine, Zeitungen, Journalist:innen) und outete sie danach im Internet, damit der Mob sich um sie kümmern möge. 
Im Redebeitrag der Veranstalter:innen wurde gleich zu Anfang mit monströsen Bildern zur gemeinsamen Identifikation eines unterdrückten Kollektivs aufgewartet; das Demonstrationsverbot als nichts geringeres als „antipalästinensischer Faschismus“ ausgerufen. Um völkisch aufgeladene Identitätssuche ging es auch in der demagogischen Rede einer jungen Palästinenserin, die die Selbstdarstellung als totales Opfer mit Schuldkult-Topoi („Deutschlands historische Schuld wird mit unserem Blut reingewaschen“) und dem Aufruf an das „palästinensische Volk“ zum „Widerstand“ – means: Aufruf zu Terror und Mord an Jüdinnen und Juden („Wir sind die erste Intifada, wir sind die zweite Intifada und wir werden auch die dritte Intifada sein“) – verband. Bei dem Ausmaß an historischer Verzerrung durch Auslassung all der antisemitischen Aggression gegen Israel und der Imagination als unschuldiges Opfer fühlte man sich irgendwie ein bisschen an Jana aus Kassel erinnert. Bejubelt wurde ihre Rede mit der „From the river to the sea“-Parole, die ab da zum Dauersound der Kundgebung wurde und von der Polizei erst kurz vor der Auflösung untersagt wurde. In einer Stellungnahme des “Jewish-Bund” versuchte man dann im Nachhinein angestrengt darzulegen, warum diese Parole überhaupt nicht antisemitisch gemeint sei. Es ginge dabei um einen Aufruf zur Befreiung eines besetzten Volkes auf dem Gebiet des historischen Palästinas und für das Eintreten eines einzigen, ungeteilten Landes. Dass die Parole als (Gewalt-)Anspielung für die Vernichtung von Jüdinnen und Juden/ethnische Säuberung fungiert, wurde wenig überzeugend in eine Projektion deutscher Gewalt- und Vernichtungsphantasien auf Palästinenser:innen umgedeutet. Neben dieser inhärent völkischen Begründung (welche Linke, außer vllt. krude Antiimperialist:innen machen sich die Vereinigung eines „Volkes“ zu ihrer Aufgabe?), ist die Ignoranz gegenüber der historischen wie gegenwärtig ziemlich offen ausgesprochenen oder angedrohten Auslöschung sowie Angriffen  auf den jüdischen Staat von palästinensischer/islamischer Seite, frappierend.  
Auffallend, wenn auch nicht überraschend war, dass auch auf dieser Kundgebung einer vermeintlich linken Palästinasolidarität, außer ein paar verflachten Schlagworten, überhaupt keine linken, emanzipatorischen, geschweige denn kommunistischen Vorstellungen oder Inhalte zu hören waren. Stattdessen wurde bloß an eine diffuse internationale Gemeinschaft appelliert, die so scheint es, sich im Hass auf Israel vereint, das ganz nach antisemitischer Manier zum Symbol globaler Unterdrückung stilisiert wurde. Die Kundgebung war von Demagogie, Dämonisierung, Feindbildern, völkischen Ideologemen und antisemitischen Parolen beherrscht. Dabei handelt es sich mitnichten um den „legitimen Versuch“ von Palästinenser:innen, den Vertreibungen im Zuge des arabischen Angriffskriegs gegen Israel zu gedenken, sondern um einen Teil des nicht enden wollenden Israelhasses, hinter dem der Vernichtungswunsch lauert. Der wird in Parolen angespielt und von Organisationen wie Samidoun, dem Solidaritätsnetzwerk für die national bzw. islamisch motivierten palästinensischen Märtyrer:innen, das gerade lautstark versucht, die Palästinasolidarität anzuführen, tatkräftig bei seinem Realisierungsversuch unterstützt.
Egal ob man es als Anti-Kolonialismus oder Klassenkampf verbrämt: Sich solidarisch oder aus Betroffenheit positiv auf einen maßgeblich von islamistischen Terrorgruppen geführten Kampf zu beziehen – für ein, ja was: „freies“, d.h. vom Islamischen Dschihad oder der Hamas geführten Palästina? – ist kein linkes Projekt.
Zusammengefasst: Uns wäre auch lieber gewesen, wenn eine breite antifaschistische Organisierung diese Aufmärsche verhindert hätte – und nicht, aus meist falschen Gründen und mit staatlichem Interesse, die Polizei. Aber die Verhinderung hat wenigstens zur Folge gehabt,dass der antisemitische Mob sich nicht ungestört entfalten konnte.
 
 

April/Mai 2023: Befreiungs-Veranstaltungen in Pankow

Im April und Mai 2023 finden in Pankow zwei Veranstaltungen unter dem Motto “Wir feiern die Befreiung Pankows” statt.

Am 23. April 2023 wird es einen Rundgang zur Geschichte der Schönholzer Heide geben. Anhand der Parkgeschichte – dem Zwangsarbeiter*innenlager, der Kriegsgräberstätte und dem Sowjetischen Ehrenmal – wird auch die Geschichte des Bezirks Pankow erzählt.

Am 15. Mai lesen Clemens Böckmann und Johannes Spohr aus ihrem Buch “Phantastische Gesellschaft-Gespräche über falsche & imaginierte Familiengeschichten zur NSVerfolgung“.
Immer wieder werden in der Öffentlichkeit Fälschungen, Betrugsfälle und imaginierte Geschichten diskutiert, die im Zusammenhang mit der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg wie auch der Erinnerung daran stehen. Meist inszenieren s

ich dabei christliche Deutsche öffentlich mit Familiengeschichten jüdischer Verfolgter und führen diese teils als Legitimation und Grundlage ihres politischen Handelns an. Ihnen begegnet ein Publikum, das die Geschichten bereitwillig rezipiert.
Ort: Hof des Buchladens „Zur schwankenden Weltkugel“
(Kastanienallee 85, 10435 Berlin – Prenzlauer Berg)

April: Kein Al Quds-Tag 2023!

Auch dieses Jahr haben die Apologeten des iranischen Regimes in aller Welt und auch in Berlin vor, am sogenannten Al Quds-Tag ihren Israelhass auf die Straße zu bringen. Wenn der Marsch stattfindet und nicht als „Hassdemonstration“ verboten wird, werden wir sie mit unserem antifaschistischen Protest in Empfang nehmen.

Weil es bereits seit dem letzten Jahr eine Anmeldung der Organisator*innen des antisemitischen AlQuds-Marsches gibt, bereiten wir uns gerade darauf vor, an diesem Tag unseren Widerspruch gegen diese Veranstaltung auf die Straße zu tragen. 

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Termine zum Frauen*-Kampftag 2023

Heraus zum 8. März!
Als antifaschistisches Bündnis gegen den Al Quds-Tag in Berlin ist es uns ein besonderes Anliegen, die feministischen Kämpfe in Afghanistan und im Iran zu unterstützen.

Es ist über mehr als eineinhalb Jahre her, dass die Taliban Kabul eingenommen haben – und Mädchen und Frauen leiden tagtäglich darunter. Die Taliban üben eine islamistische Terrorherrschaft aus, die Mädchen und Frauen in beinahe wöchentlichen Verschärfungen ein freies Leben verunmöglicht. Die Taliban nehmen ihnen den Zugang zu Bildung, verbieten es ihnen, sich frei zu bewegen und unterwerfen sie mit Gewalt ihrer Herrschaft.

Im Iran regt sich seit September des vergangenen Jahres massiver Protest: Frauen verbrennen ihre Kopftücher, schneiden ihre Zöpfe ab und lassen sich auch von der Gewalt und beständigen Folter- und Morddrohung des Mullah-Regimes nicht mehr stoppen. Mittlerweile weiten sich ihre Proteste aus: In allen Provinzen des Landes begehren die Menschen gegen die Herrschaft der Mullahs und ihrer Moralvorstellungen auf.

Wir wollen diese Kämpfe unterstützen und am 8. März, dem internationalen Frauenkampftag, unsere Solidarität zeigen. Daher rufen wir Euch auf, an der Kundgebung des Woman* Life Freedom Collectives teilzunehmen!

Kommt am 8. März um 11 Uhr zum Rosa-Luxemburg-Platz!

Auch 2023: Monatlicher Solitresen in der ZGK Scharni

Die ersten beiden Monate sind vorbei und zwei schöne Solitresen liegen hinter uns. Am 27. Januar und 24. Februar trafen wir uns in der ZGK Scharni und tranken für einen guten Zweck – unsere politische Arbeit.

Die nächsten Termine werden auch wieder mit inhaltlichen Veranstaltungen bereichert. Sie finden wiefolgt statt:
24. März
28. April

Immer ab 19 Uhr in der ZGK Scharni (Scharnweber Str. 38, Friedrichshain)

19. Februar: “Stopp Appeasement”-Kundgebung am Pariser Platz

Revolutionsgarden auf die Terrorliste

Aufruf zur Kundgebung am 19. Februar 2023 um 14 Uhr

vor der Vertretung der Europäischen Kommission, Pariser Platz, Berlin

Anlässlich des Treffens des Europäischen Rates für Auswärtige Angelegenheiten werden am 20. Februar in Brüssel wieder viele Menschen für die sofortige Aufnahme der iranischen Revolutionsgarden (IRGC) auf die EU-Terrorliste demonstrieren. Vor wenigen Wochen erst hat der Vizepräsident der EU-Kommission und EU-Außenbeauftragte Josep Borrell diese Forderung mit der läppischen Bemerkung abgetan, „man kann nicht sagen, dass jemand ein Terrorist ist, weil man ihn nicht mag“. Auch mit seinem Festhalten an dem offenkundig gescheiterten Abkommen zur Einhegung des iranischen Atombombenprogramms repräsentiert Borrell im Einklang mit den europäischen Regierungen eine Politik, die faktisch eine Unterstützung des iranischen Terrorregimes bedeutet.

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Januar 2023: Erster Solitresen im Jahr

Die “Emanzipative & Antifaschistische Gruppe [EAG]” lädt zum monatlichen Solitresen in die Scharni. Wie immer gibt es kühle Getränke und gute Musik.

Wir beginnen dieses Mal erst um 20 Uhr und empfehlen vorher an einer der  vielen Gedenkaktivitäten zum Jahrestag für die Opfer des Holocaust teilzunehmen.

Z.B.:
16:30 Uhr – Loeperplatz (Lichtenberg) von der VVN-BdA
18:00 Uhr – vor dem ehem. jüdischen Waisenhaus (Berliner Allee 122 – Pankow) – Kommission Bürgerarbeit und VVN-BdA

Vortrag “Aktuelle Debatten zum Shoah-Gedenken” (28. Oktober 2022)

(Der Vortrag wurde am 28. Oktober 2022 im Rahmen des Solitresens der EAG in der SGK Scharni gehalten. Und am 2. November 2022 im JUP Pankow wiederholt.)

In den letzten zwei Jahren wurde unter postkolonialen Vorzeichen in beinahe nahtlos aneinander anschließenden Vorstößen (Mbembe-Debatte, Plädoyer der Initiative GG 3.5 Weltoffenheit, Lancierung der Jerusalem Declaration of Antisemitism, Diskussion um Michael Rothbergs Konzept der multidirektionalen Erinnerung, Antisemitismusskandal der documenta fifteen und last but not least die Hijacking Memory-Konferenz, roganisiert vom Zentrum für Antisemitismusforschung und dem Einstein Forum, veranstaltet im HKW) vehement eine Neujustierung des Gedenkens an den Holocaust eingefordert. Der gemeinsame (latente) Tenor war stets, dass die Erinnerung an die Shoa als einem präzendenzlosen Verbechen Opferkonkurrenzen schüre und sich das allzu sehr auf die Juden fixierte Gedenken gegenüber pluralen Geschichts- und Erinnerungszugängen öffnen müsse. Konkret galt dies vor allem der Interpretation des Holocaust (hier wurde sich für die geschichtswissenschaftliche These vom Holocaust als kolonialen Genozid stark gemacht) und der Auffassung vom Antisemitismusbegriff (der als spezifischer abgelehnt und als Form der Rassismus aufgebaut wurde). Wie Rothberg im Vorwort seines Buchs ausführt, ist das politische Ziel der Neuaushandlung des Gedenkens dabei auch, einer “anderen” Betrachtung des israelisch-palästinensischen Konflikts zum Durchbruch zu verfehlen. 

Kurzum, diese Vorstöße stellen auch für unsere antifaschistische Gedenkpraxis, die den nationalsozialistischen Judenmord als singulär begreift und auf der Spezifik des Antisemitismus beharrt, eine Herausforderung dar, der man sich stellen sollte. Denn genau diese Form des Gedenkens steht unter Beschuss, ausschließend zu sein, sich einem gerechteren und universalistischen Erinnerungsdiskurs zu verschließen und somit letztendlich, ob gewollt (also rassistisch motiviert) oder ungewollt, Gewaltverbrechen an anderen – nicht weißen Minderheiten – zu bagatellisieren. Zunächst ein paar Kritikpunkte an der in den letzten zwei Jahren von der linksliberalen Wissenschafts- und Kulturprominenz der BRD so eifrig betriebenen Kritik an der Erinnerungskultur – wie das NS-Gedenken hierzulande so schön heißt. Da sie zumeist von den immer gleichen Personen getragen wurde, lassen sich die zahlreichen Vorstöße als eine Kampagne begreifen. Die Auseinandersetzung hat ja auch eine internationale Dimension, darauf können wir vllt. in der Diskussion zu sprechen kommen. Das gemeinsame Band dieser Vorstöße ist der Vorwurf, Antisemitismuskritik und Shoa werden instrumentalisiert, um rassistische Gewalt zu legitimieren oder zumindest ignorieren zu können.

Zunächst einmal muss man festhalten, von wem diese Diskussionen eigentlich geführt werden: es ist der etablierte linksliberale Mainstream der BRD, der in Zeit, Spiegel, und anderen Leitmedien publizieren darf – und dem es regelmäßig aus Welt und FAZ, aber eben auch von Links zurückschallt. Die Standortbestimmung der Debatte ist insofern wichtig, als dass sie eine Entscheidung darüber mitbringt, wie man sie zu analysieren hat und um die für linksradikale Analyse gebotene kritische Distanz gegenüber Auseinandersetzungen, die innerhalb eines liberalen, staatstragenden Rahmens geführt werden, zu wahren. Die Debatte soll im Folgenden also vor dem Hintergrund gedeutet werden, dass es dabei um eine Neuaushandlung des nationalen Selbstbildes geht. Erinnerungspolitik war und ist in der BRD stets Mittel zum Zweck der Rehabilitierung der deutschen Nation gewesen. Spätestens mit der Bundesgedenkstättenkonzeption von 1993 und ihrem Kernsatz der Erinnerung an die „beiden deutschen Diktaturen“ ist das NS-Gedenken im wiedervereinigten Deutschland zur staatstragenden Doktrin geworden. Nach der totalen Niederlage im 2.WK war die Übernahme der besonderen Schuld einst die Voraussetzung für das deutsche Kollektiv, wieder in den Reigen konkurrierender Nationalstaaten aufgenommen zu werden. Auschwitz wurde, wie Aleida Assmann es zustimmend formuliert, zum „negativen Gründungsmythos der BRD“ funktionalisiert. Somit ist das Gegenteil dessen eingetreten, was Horkheimer einst als die „einzig wahrhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ bezeichnet hatte, nämlich den „notorischen Zusammenhang zu kündigen“. Stattdessen haben die Deutschen in der eifrigen Aufarbeitung ihrer einzigartigen Vergangenheit ihre verloren gegangene nationale Größe wiederentdeckt. Als „nationale Wiedergutwerdung“ hat Eike Geisel bereits in den 1980er Jahren mit seinen Polemiken gegen den Geist des beginnenden Erinnerungsbooms angeschrieben, der zeitlich einherging mit wachsendem Rassismus und dem Erstarken des Nationalbewusstseins. Resistent gegenüber jeder Aufklärung über die eigene Vergangenheit, aber mit pädagogischem Eifer dabei sie zu bewältigen, sei das, was die Deutschen da als Erinnern betreiben, die höchste Form des Vergessens, so Geisel. 

Gegenwärtig aber scheint das Narrativ – also die Anerkennung von Schuld und Verantwortungsübernahme für die Shoa und weitere NS-Verbrechen – das einst die Voraussetzung für eine Normalisierung der deutschen Nation nach 1945 war, Deutschland jetzt zum Hemmschuh zu werden: in der Debatte um multidirektionale Erinnerung wurde es als unzeitgemäß, verengt, provinziell oder partikularistisch bezeichnet, weil es dem Einwanderungsland mit pluralen Erinnerungen und Geschichten nicht gerecht werde. Hat Erinnerung vor allem Identitätsfunktion, ist es natürlich folgerichtig, dass gegenwärtig eine Anpassung der Erinnerung gefordert wird. Das ist aber aufzuzeigen. Dass es dabei nicht (allein) um die Einforderung historischer Gerechtigkeit geht, auf andere Opfergruppen und Gewaltverbrechen aufmerksam zu machen, sondern mit der Anrufung an den Staat als Repräsentationsinstanz um eine affirmative, letztlich um das nationale Selbstbild bekümmerte Forderung geht. Deutschland sucht den Anschluss an den Diskurs linksliberaler Eliten westlicher Industriestaaten, wo Postmoderne und Postkolonialismus, zumindest auf symbolischer, also akademischer Ebene, inzwischen tonangebend sind. Bei kaum einer anderen wird das so deutlich wie bei Aleida Assmann, die 2020 in ihrem „mutigen“ Buch ihr Bekenntnis zur Nation abgelegt hat – selbstverständlich im Sinne eines nationalen Wirs der Vielfalt. Auch die Hijacking-Memory Konferenz schließt sich hier an, geht aber noch einen Schritt weiter. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Holocaust von rechts vermehrt instrumentell benutzt wird, weil sich damit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einer scheinbar aufklärerischen Position unterjubeln lassen, wird unmittelbar gegen die Falschheit der Shoa-Erinnerung als solche agitiert. Dieselben Leute würden allerdings nie auf die Idee kommen, z.B. Antidiskriminierung an sich infrage zu stellen, weil rechte Minderheiten sich diese instrumentell zunutze machen. Trump, Putin, Coronaleugner:innen, konservative Partei
nahmen für die Shoa-Erinnerung und Israel gelten ihnen allesamt als Erscheinungen ein und desselben Problems: eines autoritären Erinnerungsdiskurses. Dabei werden die jeweiligen historischen Zusammenhänge völlig ausgeblendet: Putins Entnazifizierungsgefasel dürfte vor allem innenpolitische Funktion haben: den eigenen Leuten den Krieg gegen die Ukraine schmackhaft zu machen, indem er an den glorreichen Kampf der Sowjetunion gegen Nazideutschland anknüpft. Coronaleugner:innen, die sich hierzulande auf Demos den Judenstern anheften, sind nicht aus dem postnazistischen Kontext herauszuschälen: sich den Shoa-Opfern gleichzumachen verspricht nicht nur Aufmerksamkeit, hier kommt auch die alte Ambivalenz von Opferidentifizierung- und neid wieder zum Vorschein; Täter-Opfer-Umkehr dient als Entlastungsstrategie und ist zugleich ein aggressiver Akt. 

Aber: auch wenn die Einzigartigkeit von Ausschwitz Durchsetzungsideologie eines reingewaschenen neuen Deutschland war und der Holocaust als enthistorisiertes leeres Erinnerungssymbol global Karriere gemacht hat, sind Singularität der Shoa und Spezifik des Antisemitismus zugleich wahre Gedanken, an der wir als materialistische Gesellschaftskritiker:innen nicht bloß um der historischen Erkenntnis willen festhalten. Dem könnte nur so sein, wenn es einen Bruch mit der Gesellschaft gegeben hätte, die den Holocaust hervorgebracht hat. 

Aber die wertvermittelte Gesellschaft, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse ein von den Menschen vergegenständlichtes herrschaftsförmiges Eigenleben führen, dauert fort. Moishe Postone hat in seinem Aufsatz Antisemitismus und Nationalsozialismus den Zusammenhang zwischen nationalsozialistischem Judenmord und Kapitalismus aufzuzeigen versucht. Das Wesen des Kapitalismus erscheint Postone zufolge als gewaltförmige Spaltung von Abstraktem und Konkretem, was in der nationalsozialistischen Ideologie im Gegensatz von schaffendem und raffendem Kapital zum Ausdruck gekommen ist. Konkretes wird dabei verdinglicht und als Unhistorisch/Natürliches dem verhassten Abstrakten, worin allein die gesellschaftliche Vermittlung erscheint, gegenübergestellt und in den Juden projektiv abgewehrt. Ausschwitz lässt sich damit als Ausgang in die Barbarbei begreifen, in der nicht die kapitalistische Vergesellschaftung, sondern einseitig die Wertseite, das Abstrakte vernichtet werden sollte (in der fetischistischen Wahrnehmung der Nazis ging es nicht darum Wert und Arbeit abzuschaffen, sondern die Arbeit von den Juden zu befreien). Die unkritische Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft, die das Abstrakte als unhistorisch/ewig Wahres begreift ist für Postone dagegen keine Option, da sie bloß das Gegenstück, die nichtfaschistische Modernität und Rationalität, verteidigt, ohne die die Irrationalität der nationalsozialistischen Judenvergasung aber nicht zu denken wäre. Dies ist insofern wichtig, als dass der Nationalsozialismus nicht außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verortet werden kann. Den Zusammenhang zu kappen, stellt gerade die Voraussetzung dafür dar, von einem angeblich totalen Bruch und einer Normalität nach 1945 zu sprechen. 

Da gegenwärtig die Gefahr für den Ausgang in Barbarbei ungleich größer ist als die emanzipatorische Aufhebung des Gegensatzes in die kommunistischen Gesellschaft, und wir daher davon ausgehen müssen, dass auch die Gefahr für Jüdinnen und Juden nach wie vor besteht, pochen wir eben aus gegenwärtigen politischen Gründen auf der Spezifik des Antisemitismus, die zurzeit so massiv infrage gestellt wird.

Der Widerspruch, dass der Anti-Antisemitismus sowohl – zumindest in Teilen – Herrschaftsideologie geworden ist und nach wie vor als Kritik an Staat und Kapital wie zum Schutz von Juden und Jüdinnen notwendig ist, sollte ausgehalten werden. Derartige Ambivalenzen werden zu wenig berücksichtigt, wenn etwa bei der Hijacking Memory-Konferenz vor allem die Passung von rechts(extremer) Agenda und Holocaust-Gedächtnis herausgestellt wird. Natürlich ist es bemerkens- und bedenkenswert, dass es die AfD ist, die ein BDS-Verbot fordert oder die als Konsequenz aus dem Antisemitismusskandal der Documenta einen sofortigen Stopp der Förderung von Forschungs- und Kulturprojekten fordert, die „die postkolonialistische Ideologie“ unterstützen, um Antisemitismus vorzubeugen. Allerdings muss man sich durch solche Vorstöße auch nicht für dumm verkaufen lassen, schließlich ist der AfD die Israelsolidarität und der Anti-Antisemitismus ein billiges Mittel für ihren Zweck den Postkolonialismus – der für sie Chiffre für Linksgrün-Versifft und generell jeden Antirassismus steht – loszuwerden. Dass die AfD selbst ein massives Antisemitismusproblem hat, zeigt sich z.B. neben Fällen wie Gedeon an den Ergebnissen der AJC-Studie, wonach Antisemitismus unter AfD-Wählern und Muslimen vergleichsweise am höchsten ist. Schlussstrichforderungen und Erinnerungsabwehr – Stichwort: Dresdener Höcke-Rede 2017 und Gaulands Rede vom Vogelschiss der Geschichte – sind nach wie vor, zwar nicht nur, aber doch die genuinen Produkte der Nazibrut. Und auch wenn Martin Sellner in der Sezession beispielsweise dem negativen Nationalismus etwas abgewinnen kann, weil er immerhin das Bedürfnis der Deutschen nach nationaler Identität zum Ausdruck bringt, bleibt der positive Bezug auf die Nation nach wie vor Fernziel der Rechten. Forderungen nach mehr Erinnerungspolitik findet man daher nirgends. Die Gemäßigteren scheinen sich dagegen mit einem gebrochenen Nationalismus arrangiert zu haben und machen nun halt Weltpolitik basierend auf Auschwitz. Bleibt noch was zu Israel zu sagen, dass in all den Debatten eine Art Gravitationszentrum war. Der uralte Topos: es ist vor allem der Staat Israel, der den Holocaust ausnutzt, um die Palästinenser:innen zu unterdrücken und zu kolonisieren. Es geht selbstredend bei der Parteinahme für Israel nicht darum, jeden Shizzle auf israelischer Seite zu verteidigen, sondern um eine Ausnahme in Bezug auf die allgemeine Nationalismuskritik: Die Anerkennung Israels Staatsgründungsideologie als jüdischen Staat ist für uns keine bloß faktische, sondern eine ausdrückliche. Israel ist nicht einfach ein Nationalstaat, um unter anderen Nationalstaaten konkurrieren zu können, sondern die Konsequenz aus gescheiterter Assimilation und deren mörderischen Ende in der Shoa. Herzls Vision vom zionistischen Partikularismus fußte nicht auf einem rassistisch-imperialistischen Motiv, sondern basierte auf der einzig verbliebenen Hoffnung, dass durch die Nationwerdung die Juden als Gleiche unter Gleichen anerkannt und der Antisemitismus abnehmen werde. Einiges spricht aber dafür, dass den Juden als Antithese der Völker und Nationen kein solcher Ort legitimer Differenz (Elbe) zugestanden wird, sondern Israel stattdessen zum Jude unter den Staaten geworden ist. Die weltweite BDS-Bewegung sowie die terroristischen und politischen Vernichtungsdrohungen denen Israel durch Hamas, Hisbollah, Islamischer Jihad oder Staaten wie dem Iran nach wie vor ausgesetzt ist, zeugen davon. Diese reale Gefahr wird von den postkolonialen Kritiker:innen ausgeblendet und Israel stattdessen als Apartheids- und Kolonialstaat delegitimiert. 

Die Parteinahme für den Staat Israel ist aus diesem Grund die einzige Ausnahme für unsere ansonsten im Negativen verbleibende Kritik. Wir gedenken der Shoa-Opfer mit dem fernstmöglichsten Abstand zu einer wie auch immer gefassten deutschen Nation. Antifaschistisches Gedenken kann nicht im Dienst der moralischen Selbstentlastung stehen oder zu irgendeinem Versöhnungskitsch beitragen, sondern hat dafür zu sorgen, dass nicht vergessen wird, dass in einer unversöhnten Welt keine Versöhnung zu haben ist.