(Der Vortrag wurde am 28. Oktober 2022 im Rahmen des Solitresens der EAG in der SGK Scharni gehalten. Und am 2. November 2022 im JUP Pankow wiederholt.)
In den letzten zwei Jahren wurde unter postkolonialen Vorzeichen in beinahe nahtlos aneinander anschließenden Vorstößen (Mbembe-Debatte, Plädoyer der Initiative GG 3.5 Weltoffenheit, Lancierung der Jerusalem Declaration of Antisemitism, Diskussion um Michael Rothbergs Konzept der multidirektionalen Erinnerung, Antisemitismusskandal der documenta fifteen und last but not least die Hijacking Memory-Konferenz, roganisiert vom Zentrum für Antisemitismusforschung und dem Einstein Forum, veranstaltet im HKW) vehement eine Neujustierung des Gedenkens an den Holocaust eingefordert. Der gemeinsame (latente) Tenor war stets, dass die Erinnerung an die Shoa als einem präzendenzlosen Verbechen Opferkonkurrenzen schüre und sich das allzu sehr auf die Juden fixierte Gedenken gegenüber pluralen Geschichts- und Erinnerungszugängen öffnen müsse. Konkret galt dies vor allem der Interpretation des Holocaust (hier wurde sich für die geschichtswissenschaftliche These vom Holocaust als kolonialen Genozid stark gemacht) und der Auffassung vom Antisemitismusbegriff (der als spezifischer abgelehnt und als Form der Rassismus aufgebaut wurde). Wie Rothberg im Vorwort seines Buchs ausführt, ist das politische Ziel der Neuaushandlung des Gedenkens dabei auch, einer “anderen” Betrachtung des israelisch-palästinensischen Konflikts zum Durchbruch zu verfehlen.
Kurzum, diese Vorstöße stellen auch für unsere antifaschistische Gedenkpraxis, die den nationalsozialistischen Judenmord als singulär begreift und auf der Spezifik des Antisemitismus beharrt, eine Herausforderung dar, der man sich stellen sollte. Denn genau diese Form des Gedenkens steht unter Beschuss, ausschließend zu sein, sich einem gerechteren und universalistischen Erinnerungsdiskurs zu verschließen und somit letztendlich, ob gewollt (also rassistisch motiviert) oder ungewollt, Gewaltverbrechen an anderen – nicht weißen Minderheiten – zu bagatellisieren. Zunächst ein paar Kritikpunkte an der in den letzten zwei Jahren von der linksliberalen Wissenschafts- und Kulturprominenz der BRD so eifrig betriebenen Kritik an der Erinnerungskultur – wie das NS-Gedenken hierzulande so schön heißt. Da sie zumeist von den immer gleichen Personen getragen wurde, lassen sich die zahlreichen Vorstöße als eine Kampagne begreifen. Die Auseinandersetzung hat ja auch eine internationale Dimension, darauf können wir vllt. in der Diskussion zu sprechen kommen. Das gemeinsame Band dieser Vorstöße ist der Vorwurf, Antisemitismuskritik und Shoa werden instrumentalisiert, um rassistische Gewalt zu legitimieren oder zumindest ignorieren zu können.
Zunächst einmal muss man festhalten, von wem diese Diskussionen eigentlich geführt werden: es ist der etablierte linksliberale Mainstream der BRD, der in Zeit, Spiegel, und anderen Leitmedien publizieren darf – und dem es regelmäßig aus Welt und FAZ, aber eben auch von Links zurückschallt. Die Standortbestimmung der Debatte ist insofern wichtig, als dass sie eine Entscheidung darüber mitbringt, wie man sie zu analysieren hat und um die für linksradikale Analyse gebotene kritische Distanz gegenüber Auseinandersetzungen, die innerhalb eines liberalen, staatstragenden Rahmens geführt werden, zu wahren. Die Debatte soll im Folgenden also vor dem Hintergrund gedeutet werden, dass es dabei um eine Neuaushandlung des nationalen Selbstbildes geht. Erinnerungspolitik war und ist in der BRD stets Mittel zum Zweck der Rehabilitierung der deutschen Nation gewesen. Spätestens mit der Bundesgedenkstättenkonzeption von 1993 und ihrem Kernsatz der Erinnerung an die „beiden deutschen Diktaturen“ ist das NS-Gedenken im wiedervereinigten Deutschland zur staatstragenden Doktrin geworden. Nach der totalen Niederlage im 2.WK war die Übernahme der besonderen Schuld einst die Voraussetzung für das deutsche Kollektiv, wieder in den Reigen konkurrierender Nationalstaaten aufgenommen zu werden. Auschwitz wurde, wie Aleida Assmann es zustimmend formuliert, zum „negativen Gründungsmythos der BRD“ funktionalisiert. Somit ist das Gegenteil dessen eingetreten, was Horkheimer einst als die „einzig wahrhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ bezeichnet hatte, nämlich den „notorischen Zusammenhang zu kündigen“. Stattdessen haben die Deutschen in der eifrigen Aufarbeitung ihrer einzigartigen Vergangenheit ihre verloren gegangene nationale Größe wiederentdeckt. Als „nationale Wiedergutwerdung“ hat Eike Geisel bereits in den 1980er Jahren mit seinen Polemiken gegen den Geist des beginnenden Erinnerungsbooms angeschrieben, der zeitlich einherging mit wachsendem Rassismus und dem Erstarken des Nationalbewusstseins. Resistent gegenüber jeder Aufklärung über die eigene Vergangenheit, aber mit pädagogischem Eifer dabei sie zu bewältigen, sei das, was die Deutschen da als Erinnern betreiben, die höchste Form des Vergessens, so Geisel.
Gegenwärtig aber scheint das Narrativ – also die Anerkennung von Schuld und Verantwortungsübernahme für die Shoa und weitere NS-Verbrechen – das einst die Voraussetzung für eine Normalisierung der deutschen Nation nach 1945 war, Deutschland jetzt zum Hemmschuh zu werden: in der Debatte um multidirektionale Erinnerung wurde es als unzeitgemäß, verengt, provinziell oder partikularistisch bezeichnet, weil es dem Einwanderungsland mit pluralen Erinnerungen und Geschichten nicht gerecht werde. Hat Erinnerung vor allem Identitätsfunktion, ist es natürlich folgerichtig, dass gegenwärtig eine Anpassung der Erinnerung gefordert wird. Das ist aber aufzuzeigen. Dass es dabei nicht (allein) um die Einforderung historischer Gerechtigkeit geht, auf andere Opfergruppen und Gewaltverbrechen aufmerksam zu machen, sondern mit der Anrufung an den Staat als Repräsentationsinstanz um eine affirmative, letztlich um das nationale Selbstbild bekümmerte Forderung geht. Deutschland sucht den Anschluss an den Diskurs linksliberaler Eliten westlicher Industriestaaten, wo Postmoderne und Postkolonialismus, zumindest auf symbolischer, also akademischer Ebene, inzwischen tonangebend sind. Bei kaum einer anderen wird das so deutlich wie bei Aleida Assmann, die 2020 in ihrem „mutigen“ Buch ihr Bekenntnis zur Nation abgelegt hat – selbstverständlich im Sinne eines nationalen Wirs der Vielfalt. Auch die Hijacking-Memory Konferenz schließt sich hier an, geht aber noch einen Schritt weiter. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Holocaust von rechts vermehrt instrumentell benutzt wird, weil sich damit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einer scheinbar aufklärerischen Position unterjubeln lassen, wird unmittelbar gegen die Falschheit der Shoa-Erinnerung als solche agitiert. Dieselben Leute würden allerdings nie auf die Idee kommen, z.B. Antidiskriminierung an sich infrage zu stellen, weil rechte Minderheiten sich diese instrumentell zunutze machen. Trump, Putin, Coronaleugner:innen, konservative Partei
nahmen für die Shoa-Erinnerung und Israel gelten ihnen allesamt als Erscheinungen ein und desselben Problems: eines autoritären Erinnerungsdiskurses. Dabei werden die jeweiligen historischen Zusammenhänge völlig ausgeblendet: Putins Entnazifizierungsgefasel dürfte vor allem innenpolitische Funktion haben: den eigenen Leuten den Krieg gegen die Ukraine schmackhaft zu machen, indem er an den glorreichen Kampf der Sowjetunion gegen Nazideutschland anknüpft. Coronaleugner:innen, die sich hierzulande auf Demos den Judenstern anheften, sind nicht aus dem postnazistischen Kontext herauszuschälen: sich den Shoa-Opfern gleichzumachen verspricht nicht nur Aufmerksamkeit, hier kommt auch die alte Ambivalenz von Opferidentifizierung- und neid wieder zum Vorschein; Täter-Opfer-Umkehr dient als Entlastungsstrategie und ist zugleich ein aggressiver Akt.
Aber: auch wenn die Einzigartigkeit von Ausschwitz Durchsetzungsideologie eines reingewaschenen neuen Deutschland war und der Holocaust als enthistorisiertes leeres Erinnerungssymbol global Karriere gemacht hat, sind Singularität der Shoa und Spezifik des Antisemitismus zugleich wahre Gedanken, an der wir als materialistische Gesellschaftskritiker:innen nicht bloß um der historischen Erkenntnis willen festhalten. Dem könnte nur so sein, wenn es einen Bruch mit der Gesellschaft gegeben hätte, die den Holocaust hervorgebracht hat.
Aber die wertvermittelte Gesellschaft, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse ein von den Menschen vergegenständlichtes herrschaftsförmiges Eigenleben führen, dauert fort. Moishe Postone hat in seinem Aufsatz Antisemitismus und Nationalsozialismus den Zusammenhang zwischen nationalsozialistischem Judenmord und Kapitalismus aufzuzeigen versucht. Das Wesen des Kapitalismus erscheint Postone zufolge als gewaltförmige Spaltung von Abstraktem und Konkretem, was in der nationalsozialistischen Ideologie im Gegensatz von schaffendem und raffendem Kapital zum Ausdruck gekommen ist. Konkretes wird dabei verdinglicht und als Unhistorisch/Natürliches dem verhassten Abstrakten, worin allein die gesellschaftliche Vermittlung erscheint, gegenübergestellt und in den Juden projektiv abgewehrt. Ausschwitz lässt sich damit als Ausgang in die Barbarbei begreifen, in der nicht die kapitalistische Vergesellschaftung, sondern einseitig die Wertseite, das Abstrakte vernichtet werden sollte (in der fetischistischen Wahrnehmung der Nazis ging es nicht darum Wert und Arbeit abzuschaffen, sondern die Arbeit von den Juden zu befreien). Die unkritische Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft, die das Abstrakte als unhistorisch/ewig Wahres begreift ist für Postone dagegen keine Option, da sie bloß das Gegenstück, die nichtfaschistische Modernität und Rationalität, verteidigt, ohne die die Irrationalität der nationalsozialistischen Judenvergasung aber nicht zu denken wäre. Dies ist insofern wichtig, als dass der Nationalsozialismus nicht außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verortet werden kann. Den Zusammenhang zu kappen, stellt gerade die Voraussetzung dafür dar, von einem angeblich totalen Bruch und einer Normalität nach 1945 zu sprechen.
Da gegenwärtig die Gefahr für den Ausgang in Barbarbei ungleich größer ist als die emanzipatorische Aufhebung des Gegensatzes in die kommunistischen Gesellschaft, und wir daher davon ausgehen müssen, dass auch die Gefahr für Jüdinnen und Juden nach wie vor besteht, pochen wir eben aus gegenwärtigen politischen Gründen auf der Spezifik des Antisemitismus, die zurzeit so massiv infrage gestellt wird.
Der Widerspruch, dass der Anti-Antisemitismus sowohl – zumindest in Teilen – Herrschaftsideologie geworden ist und nach wie vor als Kritik an Staat und Kapital wie zum Schutz von Juden und Jüdinnen notwendig ist, sollte ausgehalten werden. Derartige Ambivalenzen werden zu wenig berücksichtigt, wenn etwa bei der Hijacking Memory-Konferenz vor allem die Passung von rechts(extremer) Agenda und Holocaust-Gedächtnis herausgestellt wird. Natürlich ist es bemerkens- und bedenkenswert, dass es die AfD ist, die ein BDS-Verbot fordert oder die als Konsequenz aus dem Antisemitismusskandal der Documenta einen sofortigen Stopp der Förderung von Forschungs- und Kulturprojekten fordert, die „die postkolonialistische Ideologie“ unterstützen, um Antisemitismus vorzubeugen. Allerdings muss man sich durch solche Vorstöße auch nicht für dumm verkaufen lassen, schließlich ist der AfD die Israelsolidarität und der Anti-Antisemitismus ein billiges Mittel für ihren Zweck den Postkolonialismus – der für sie Chiffre für Linksgrün-Versifft und generell jeden Antirassismus steht – loszuwerden. Dass die AfD selbst ein massives Antisemitismusproblem hat, zeigt sich z.B. neben Fällen wie Gedeon an den Ergebnissen der AJC-Studie, wonach Antisemitismus unter AfD-Wählern und Muslimen vergleichsweise am höchsten ist. Schlussstrichforderungen und Erinnerungsabwehr – Stichwort: Dresdener Höcke-Rede 2017 und Gaulands Rede vom Vogelschiss der Geschichte – sind nach wie vor, zwar nicht nur, aber doch die genuinen Produkte der Nazibrut. Und auch wenn Martin Sellner in der Sezession beispielsweise dem negativen Nationalismus etwas abgewinnen kann, weil er immerhin das Bedürfnis der Deutschen nach nationaler Identität zum Ausdruck bringt, bleibt der positive Bezug auf die Nation nach wie vor Fernziel der Rechten. Forderungen nach mehr Erinnerungspolitik findet man daher nirgends. Die Gemäßigteren scheinen sich dagegen mit einem gebrochenen Nationalismus arrangiert zu haben und machen nun halt Weltpolitik basierend auf Auschwitz. Bleibt noch was zu Israel zu sagen, dass in all den Debatten eine Art Gravitationszentrum war. Der uralte Topos: es ist vor allem der Staat Israel, der den Holocaust ausnutzt, um die Palästinenser:innen zu unterdrücken und zu kolonisieren. Es geht selbstredend bei der Parteinahme für Israel nicht darum, jeden Shizzle auf israelischer Seite zu verteidigen, sondern um eine Ausnahme in Bezug auf die allgemeine Nationalismuskritik: Die Anerkennung Israels Staatsgründungsideologie als jüdischen Staat ist für uns keine bloß faktische, sondern eine ausdrückliche. Israel ist nicht einfach ein Nationalstaat, um unter anderen Nationalstaaten konkurrieren zu können, sondern die Konsequenz aus gescheiterter Assimilation und deren mörderischen Ende in der Shoa. Herzls Vision vom zionistischen Partikularismus fußte nicht auf einem rassistisch-imperialistischen Motiv, sondern basierte auf der einzig verbliebenen Hoffnung, dass durch die Nationwerdung die Juden als Gleiche unter Gleichen anerkannt und der Antisemitismus abnehmen werde. Einiges spricht aber dafür, dass den Juden als Antithese der Völker und Nationen kein solcher Ort legitimer Differenz (Elbe) zugestanden wird, sondern Israel stattdessen zum Jude unter den Staaten geworden ist. Die weltweite BDS-Bewegung sowie die terroristischen und politischen Vernichtungsdrohungen denen Israel durch Hamas, Hisbollah, Islamischer Jihad oder Staaten wie dem Iran nach wie vor ausgesetzt ist, zeugen davon. Diese reale Gefahr wird von den postkolonialen Kritiker:innen ausgeblendet und Israel stattdessen als Apartheids- und Kolonialstaat delegitimiert.
Die Parteinahme für den Staat Israel ist aus diesem Grund die einzige Ausnahme für unsere ansonsten im Negativen verbleibende Kritik. Wir gedenken der Shoa-Opfer mit dem fernstmöglichsten Abstand zu einer wie auch immer gefassten deutschen Nation. Antifaschistisches Gedenken kann nicht im Dienst der moralischen Selbstentlastung stehen oder zu irgendeinem Versöhnungskitsch beitragen, sondern hat dafür zu sorgen, dass nicht vergessen wird, dass in einer unversöhnten Welt keine Versöhnung zu haben ist.